Aus der Kuppel des Felsendoms wurde der bayerische Zwiebelturm

Wie die Münchner Frauenkirche zu ihren "welschen Hauben" kam - Azubis bauen einen barocken Turmhelm

"Jeder Zimmerer sollte wenigstens einmal im Leben eine Zwiebel gebaut haben", sagt Wolfgang Weigl, Zimmerermeister und Ausbildungsleiter bei der Zimmerer-Innung in München. Er meint eine Zwiebelturmhaube, wie sie Tausende von Kirchtürmen in Bayern und ganz Süddeutschland krönt. Doch die Chancen, eine solche zu errichten, sind nicht mehr groß. Die Architektur der Gegenwart kennt auch in Bayern keine Zwiebeltürme mehr und wenn ein alter Turm schadhaft wird, "flickt man ihn zusammen, weil die Finanzen fehlen", stellt Weigl bedauernd fest.

Im Sommer des vergangen Jahres aber konnte er sich und seinen Azubis diesen Zimmermannstraum erfüllen. Auf dem Zentralen Landwirtschaftsfest, das immer gemeinsam mit dem Oktoberfest auf der Münchner Theresienwiese stattfindet, durften sie in einer lebenden Werk-statt eine fünf Meter hohe Zwiebel mit 275 Zentimeter Durchmesser bauen, die im Mai dieses Jahres einer Kapelle in Sparz bei Traunstein auf den Turm gesetzt werden soll.

Zwiebeltürme gehören meist zu Barockkirchen, denn die Form der Zwiebel - unten bauchig, oben spitz zulaufend - passte wunderbar zur Kunstauffassung und zum Lebensstil des Barock. Als "eine Synthese aus der Bewegung ins Übersinnliche und dem Verharren in den Wölbungen des Sinnlichen" hat sie der Publizist und Kunstkenner Wilhelm Hausenstein gedeutet. Dennoch sind die "welschen Hauben", wie die Kunsthistoriker sie nennen, keine Erfindung der Barockbaumeister. Es gab sie schon in der Renaissancezeit. Und die allerersten saßen sogar auf den Türmen einer spätgotischen Kirche, der Münchner Frauenkirche. Bis heute prägen sie als unverwechselbares Wahrzeichen die Silhouette der Stadt.

Die Frauenkirche ist von 1468 bis 1488 von Jörg von Halspach errichtet worden. Als der Baumeister im Jahr der Fertigstellung starb, fehlten nur noch die Turmhauben. Die Schedelsche Weltchronik zeigt deshalb 1493 die Türme ohne die kleinen Kuppeln, aber mit Tamboursockeln, wie sie allgemein als Unterbau für eine Kuppel verwendet wurden. Es dauerte 37 Jahre, bis Lukas Rottaler 1525 dem Bauwerk schließlich die Hauben aufsetzte. Diese lange Verzögerung hatte mit dem Landshuter Erbfolgekrieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu tun. Da wurden auf den Plattformen der beiden Türme Kanonen postiert.

Die Idee, die Türme nicht mit Spitzhelmen, sondern mit kleinen Kuppeln abzuschließen, stammte noch vom Baumeister selbst. Er hatte dabei unmittelbar den Turm der Kirche Madonna dell´Orto in Venedig vor Augen, was den Ausdruck "welsche Hauben" (aus Welschland) erklärt. Er kannte aber sicherlich auch das damals weit verbreitete Buch "Peregrinatio in terram sanctam" (Pilgerreise in das Heilige Land) des Bernhard von Breidenbach, einen mit Holzschnitten illustrierten Reisebericht. Dieser zeigte unter anderem den Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem, der die ganze Stadt überragte. Breidenbach hielt das mit einer mächtigen, zwiebelförmigen Kuppel bekrönte Bauwerk für den Tempel Salomons. In Wirklichkeit war es eine gegen Ende des siebten Jahrhunderts vom Kalifen Abd el-Malik errichtete Moschee, eines der bedeutendsten Heiligtümer des Islam. Von ihr aus soll Mohammed in den Himmel aufgefahren sein. Die Kuppel des Felsendoms hatte allerdings in der Hagia Sophia und in der Grabeskirche noch ältere Vorbilder. Der Felsendom spielt heute wieder eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Juden und Palästinensern. Unter der Moschee vermuten die Israelis die Reste des wirklichen Salomon-Tempels.

Mit diesem verband man im ausgehenden Mittelalter die Vision vom himmlischen Jerusalem aus der Geheimen Offenbarung des Johannes (Offb 21,2-3). Jörg von Halspach wollte diese Vision auf seine Münchner Frauenkirche übertragen. Und so plante er für jeden der beiden Türme eine Kuppel nach dem Vorbild des Felsendoms, der Grabeskirche und der Hagia Sophia, wie es ihm die Baumeister in Venedig bereits vorgemacht haben.

50 Jahre lang blieben die welschen Hauben der Frauenkirche in Bayern einzigartig. Erst 1576 griff Jonas Holl in der Nachbarstadt Augsburg diese Bauidee wieder auf. Er arbeitete als Polier bei seinem Vater Hans Holl, als dieser die Franziskanerinnenkirche Maria Stern erbaute. Jonas durfte den zierlichen Turm errichten, dem er eine welsche Haube nach dem Münchner Vorbild aufsetzte. Einen Steinwurf von der Franziskanerinnen-Kirche entfernt baute 40 Jahre später sein jüngerer Bruder Elias das Augsburger Rathaus, das bedeutendste profane Renaissance-Bauwerk nördlich der Alpen. Er stattete es auch mit zwei markanten Zwiebeltürmen aus.

In der Barockzeit variierten die Baumeister die Zwiebelform von schlank bis behäbig breit oder setzten mehrere Zwiebeln übereinander, die sie durch sogenannte Laternen miteinander verbanden. Die Unterkonstruktion war immer aus Holz und ein ziemlich kompliziertes Gebilde. Das stellten auch Wolfgang Weigl und seine Zimmerer-Lehrlinge fest, als sie sich ans Werk machten. "Aus einem gerade gewachsenen Bauteil etwas Rundes zu machen, ist eine echte Herausforderung" , sagt Weigl. "Das muss man mit bestimmten Techniken, die zum Teil schon in Vergessenheit geraten sind, in den Griff bekommen." Er hat diese Techniken von seinem Großvater gelernt, der vor dem Krieg eine Vielzahl von Zwiebeltürmen erneuert hat. Dennoch hat es eine Menge Verschnitt gegeben, was bei der Arbeit mit Azubis aber ganz natürlich ist.

Das Material hat der bayerische "Landesbeirat Holz" bereitgestellt, ein von Holzerzeugern, Holzverarbeitern und dem Ministerium für Landwirtschaft und Forsten gemeinsam getragener Dachverband. Er hat die lebende Werkstatt auf dem Landwirtschaftsfest als PR-Aktion für die Verwendung von Holz aus heimischen Wäldern initiiert und finanziert. Damit aber der Turm nach der Ausstellung nicht als Brennholz endet, wandte sich Wolfgang Weigl an das Baureferat des Erzbischöflichen Ordinariats in München. Dieses ermittelte per Faxrundruf die Kapelle in Sparz bei Traunstein als möglichen Interessenten. Deren Zwiebelturm ist baufällig geworden, weil Spechte jahrzehntelang auf der Suche nach Käfern und Larven die Lärchenholzschindeln durchlöchert haben. Das eindringende Wasser hat tragende Teile der Holzkonstruktion zerstört. Sparz bekam den Zuschlag. Im Mai wird ein Baukran die alte Zwiebel abtragen und die neue aufsetzen - kostenlos für die Gemeinde. Das Eindecken mit neuen Schindeln hat die Dachdecker-Innung übernommen, die sich an der Aktion beteiligt und auf der Messe "Heim und Handwerk" mit ihren Azubis gezeigt hat, wie Lärchenschindeln hergestellt und auf einem geschweiften Zwiebelturm befestigt werden.

In Sparz prägt also weiterhin, wie in vielen tausend anderen Dörfern auch, ein "typisch bayerischer" Zwiebelturm die Landschaft, der in Wirklichkeit die Nachbildung der Kuppel einer islamischen Moschee ist, Zeichen der Weltoffenheit und Weltverbundenheit des katholischen Bayern.

Karl Grüner

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